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Die Unzeitgemäßen

Eine mexikoweite Initiative. COMISIÓN SEXTA ZAPATISTA. An die Anhänger*innen der Erklärung für das Leben.

An das Europa von unten und links.
An die Sexta Nacional und Internacional (1)
An den Congreso Nacional Indígena (CNI) – Indigener Regierungsrat (CIG).
An die Netzwerke in Widerstand und Rebellion.
An das Kollektiv »Lllegó la Hora de los Pueblos – Die Stunde der Pueblos ist gekommen«.

Von: Subcomandante Insurgente Moisés.

Compañeras, Compañeroas, Compañeros,
Schwestern, Schwestern*Brüder, Brüder,

Ich grüße Euch im Namen der Kinder, Frauen, AnderEn, der Alten und Männer der zapatistischen Gemeinden und teile Euch folgendes mit:

Erstens.- Ein starkes zapatistisches Luftfahrtunternehmen aus 177 Compañeros ist bereit. Es besteht vollständig aus Originarios (2) mit Maya-Wurzeln der Sprachen Cho ́ol, Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Castilla [Spanisch]. Wir alle sind innerhalb der Geographie geboren, die Mexiko genannt wird. Unsere Vorfahren wurden hier geboren und starben auf diesen Erden. Da der mexikanische Staat unsere Identität und Herkunft nicht anerkennt und uns sagt, wir seien »Extemporäre, Unzeitgemäße« (das ließ das SRE – Sekretariat der Regierung für Außenbeziehungen (3) – verlautbaren: Wir seien »extemporäre« Mexikaner.) – haben wir entschieden, unsere Flug-Staffel des Zuhörens und der Worte – »Die Extemporäre – Die Unzeitgemäße« zu taufen.

Wie wir in den Wörterbüchern gesehen haben, bedeutet »extemporär«: »ungelegen, unangebracht sein; unangemessen, unschicklich sein«, oder: »unpassend innerhalb der Zeit, in der es geschieht«. Das Heißt: wir sind Unangebrachte, Unschickliche und Unzeitgemäße.

Niemals zuvor haben sie uns dermaßen angemessen definiert. Wir sind glücklich darüber, dass der mexikanische Staat letztendlich anerkennt: Derart sieht er die Pueblos originarios (4) der Mexiko genannten Geographie. Ich glaube, auf diese Weise beklagt derjenige, der uns nicht vernichten konnte … noch nicht – dass unserer Existenz dem offiziellen Diskurs über die »Conquista« widerspricht. Nun wird verständlich: Der Grund für die Forderung des mexikanischen Staates an Spanien, es solle um Vergebung bitten, liegt darin, dass jenes uns nicht vernichtet hat.

Von den 177 Delegiertinnen haben 62 von uns Frauen und Männer noch keinen Reisepass. Das Außenministerium versteift sich in der »Ungebührlichkeit«, die wir repräsentieren. Obzwar wir Identitäts- und Herkunftsnachweise erbrachten, fahren sie fort, mehr und mehr zusätzliche Papiere zu verlangen. Es fehlt lediglich, die Regierungen der zentralamerikanischen Staaten zu bitten, sie sollten bestätigen, dass wir nicht ihre Staatsbürgerinnen sind.

2.- Das Luftfahrtunternehmen »Die Extemporäre – Die Unzeitgemäße«, dessen Vorsitz ich innehabe, hat sich seit Oktober 2020 vorbereitet. Wir sind seit fast einem Monat in Quarantäne. Folgendermaßen setzt es sich zusammen:

.- Verschiedene Gruppen »des Zuhörens und der Worte – Escucha y Palabra«. Bestehend aus indigenen Zapatistas, deren Leben und Erinnerung die Geschichte unseres Kampfes – von den Jahren vor dem Aufstand [1994] bis hin zum Anfang der Reise für das Leben – abdeckt.

.- Eine Frauen-Fußball-Equipe. Sie wird gebildet von 36 Milizionärinnen (5), die auch Teil der Gruppe »Escucha y Palabra« sein werden. Als Namen und Beispiel haben sie sich die verstorbene Comandanta Ramona gewählt (die erste, die Chiapas verließ (6)). Sie nennen sich »Ixchel Ramona« (7) und unter dieser Bezeichnung werden sie die Spielfelder Europas betreten.

.- Das selbst ernannte »Comando Palomitas – Kommando Popcorn« – bestehend aus 6 Mädchen und Jungen der Gruppe »Spiel und Juxerei«. Sie haben sich, wie wir alle, vorbereitet.

.- Die Koordinierungsgruppe der Invasion. Das sind diejenigen, die die Aufgabe haben, zu organisieren und die gegebenenfalls die Gruppen »Escucha y Palabra« verstärken – welche sich auf die 5 Zonen, in die wir den Kontinent Europa eingeteilt haben, verteilen werden. Jene werden sich auch um die freien Medien und die Bezahl-Medien kümmern, an runden Tischen, Konferenzen oder [anderen] öffentlichen Aktionen teilnehmen – und sie werden den Fortgang der Invasion auswerten.

Zusammen mit dem Geschwader 421 werden wir die erste zapatistische Welle umsetzen und damit beginnen, diejenigen zu besuchen, die uns eingeladen haben. Mit Aufmerksamkeit und Respekt werden wir Euch zuhören. Und falls darum gebeten wird, werden wir Euch von unserer kleinen Geschichte des Widerstands und der Rebellion erzählen.

3.- Mit uns – Frauen und Männer – wird eine Delegation des Congreso Nacional Indígena (CNI) – Indigener Regierungsrat (CIG) reisen: zehn Indigene der Sprachen Maya originaria, Popoluca, Binizá, Purhépecha, Raramuri, Otomí, Naayeri/Wixarika und Nahua; sowie drei Geschwister der Frente de Pueblos en Defensa de la Tierra y el Agua de Tlaxcala, Puebla y Morelos. Insgesamt 13.

4.- Da es an mir ist, die Verantwortung für die Reise für das Leben – Kapitel Europa zu übernehmen, habe ich dem Subcomandante Insurgente Galeano die Leitung für Mexiko übergeben – damit er schnellst möglichst Kontakt aufnimmt mit dem Congreso Nacional Indígena (CNI) – Indigener Regierungsrat (CIG), den Netzwerken des Widerstands und der Rebellion, mit NGOs der Menschenrechtsverteidigung, mit Kollektiven der Opfer von Gewalt, Familienangehörigen von Verschwunden gemachten und ähnlichem; sowie mit Künstlern, Wissenschaftlern und Intellektuellen – mit dem Ziel, sie wissen zu lassen von einer neuen mexikoweiten Initiative und sie dazu einzuladen, sich dafür zu organisieren. Und somit eine Front in unserem Land zu eröffnen – im Kampf für das Leben.

5.- In einigen Tagen werden wir unsere Reise beginnen; und wir werden Euch im gegebenen Moment informieren. Im Augenblick sind wir dabei zu versuchen, uns alle impfen zu lassen, damit wir Euch keine Gesundheitsprobleme mitbringen – darauf wartend, dass die so genannte »3. Welle« der Infektionen in Mexiko ein wenig sinkt.

Danach werden wir uns zum Caracol Jacinto Canek in San Cristóbal de las Casas begeben. Dort werden wir uns sammeln. Und von dort werden wir uns nach Mexiko Stadt aufmachen, wo wir als 177 Delegiert*innen zu den Büros des Außenministeriums gehen werden. Damit sie uns dort öffentlich und direkt sagen können: Wir als »Unzeitgemäße, Extemporäre« hätten keinerlei Rechte und ihr »Apirationismus« (8) zwinge sie dazu, die Verantwortung an rassistische, ignorante Bürokraten zu übergeben.

Danach werden wir Euch die exakten Daten mitteilen. Denn, so wie es scheint, sind wir auch für die französische Regierung inopportun. Und na klar, zusätzlich dazu gibt es noch die erneute weltweite Covid 19-Welle. Wie sollte die Globalisierung sich auch anders zeigen.

6.- Wir sind ein wenig nervös aber froh – denn es ist ja nicht das erste Mal, dass wir etwas machen, ohne zu wissen, was uns erwartet. Wir danken jetzt bereits dem Europa von unten, der Sexta Nacional, den Netzwerken des Widerstands und der Rebellion, den solidarischen NGOs – hier und auf der anderen Seite des Ozeans, und dem Kollektiv »Llegó la Hora de los Pueblos« – für die ökonomische und materielle Unterstützung, die es ermöglichen wird, diese Flugreise zu realisieren. Die Kosten der maritimen Reise [des Geschwaders 421] und der gesamten Reisepässe wurde insgesamt durch die EZLN gedeckt (jeder Pass zwischen 10.000 und 15.000 Pesos – wegen der ständigen Hin- und Rückfahrten zu unseren Pueblos, um als »Extemporäre« die lächerlichen Anforderungen des mexikanischen Staates zu erfüllen). Das lässt uns ohne Reservefonds zurück. Diese Kostenübernahme repräsentiert jedoch nicht die Übernahme irgendwelcher persönlichen Kosten der Delegiert*innen.

7.- Von der mexikoweiten Initiative – mit der der SupGaleano beauftragt ist – sage ich Euch bloß vorneweg: Sie wird mit unserem Aufruf beginnen, an der so genannten »Volksbefragung« am 1. August teilzunehmen. Und dort mit »Ja« zu antworten auf die Frage, ob etwas gemacht werden muss oder nicht, damit das Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit derjenigen erfüllt wird, die durch die Handlungen oder Unterlassungen des mexikanischen Staates zum Opfer wurden. (Dies und nichts anderes bedeutet die Frage, die der höchste Gerichtshof des Landes, was sich Mexiko nennt, ausgearbeitet hat.) Diejenigen – die sich oben, innerhalb der »Oppositionsparteien« gegen diese Befragung wehren – fürchten nicht nur ihre Folgen. Es schreckt sie, dass die Opfer ihre Forderungen wieder zurückerobern könnten – gegenüber dem niederträchtigen, perversen Nutzen, den die Ultrarechte aus ihrem Schmerz zu schlagen sucht. Der Schmerz jedoch darf kein Wahl-Geschäft sein – noch weniger für so beschissene Resultate, dass welche wieder an die Regierung gelangen, die einige der Hauptverantwortlichen der Gewalt sind und zuvor sich lediglich dem gewidmet haben, Geld und Zynismus anzuhäufen. Darum tut auch das Nationale Wahlinstitut (INE) alles Mögliche, damit die Befragung scheitert (das INE, das uns Indigene ebenfalls als »Extemporäre« betrachtet und uns den Wahlausweis verweigert). Das Nationale Wahlinstitut weiß, es trägt – wegen seiner exklusiven Politik für hellhäutige, urbane Menschen – einen Teil der Verantwortung.

Es muss sich dorthinein begeben werden; nicht nach oben schauend sondern auf die Opfer. Die Befragung muss zu einer »extemporären – unzeitgemäßen« Befragung gewandelt werden. Mit dem Ziel damit eine Mobilisierung für eine Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission – oder wie auch immer sie genannt werden wird – anzustoßen. Denn es kann kein Leben geben, ohne Wahrheit und Gerechtigkeit.

Im Moment ist das alles.

Aus den Bergen des Südosten Mexikos.

Für die extemporären – unzeitgemäßen Zapatistas.

Subcomandante Insurgente Moisés.

Immer noch in Mexiko, Juli 2021.